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'Herzschlag in uns' Teil 2

© Mela Wagner 2021 

1. Kapitel -  Anton

 

Als ich über mein Gesicht wische und die Augen einen Spalt öffne, fliegt eine Papierkugel direkt in mein Auge. 

»Ausgeschlafen?«

Müde strecke ich mich durch. »Sagt jemand, der die letzten zwei Wochen verpennt hat.« Sofort schweift mein Blick zu Ava, die friedlich im Krankenbett neben Lou schläft. Natürlich entgeht dies meiner Schwester nicht und sie reagiert mit einer genervten Fratze. 

»Keine Sorge, meine Copy schläft tief und fest. Bestimmt träumt sie von deinen leeren Versprechungen.« 

Mit Lous Ablehnung habe ich gerechnet. Verständlich, denn sie kennt mich wie kein anderer. Dutzende Male war sie hautnah dabei, wenn ich Frauen den Laufpass gegeben habe, die sich eine feste Beziehung mit mir gewünscht haben. Sie ist sauer und ich kann es ihr nicht übel nehmen. Ich richte mich auf und stütze die Ellenbogen auf den Knien ab. Erschöpft lasse ich den Kopf in meine Hände sinken und streiche ein paar Mal darüber. Dabei atme ich tief ein und aus. Der Tag war lang und ich müsste längst in Florenz sein, um mit dem Training zu beginnen. Aber das kann ich ja jetzt wohl schlecht, wo ich so ganz nebenbei diese wesentliche Neuigkeit mitbekommen habe. Ava ist schwanger.

Als ich den Blick hebe, kneift Lou ihre Augen fest zusammen. »Was hast du dir dabei gedacht?«, flüstert sie aufgebracht.

»Vermutlich nicht viel«, lüge ich mit gedämpfter Stimme, um Ava nicht zu wecken.

»Das hier ist nicht eine deiner x‑beliebigen Freundinnen, mit der du deinen Spaß hast. Das hier ist mein genetischer Zwilling, du Idiot!«

Sie deutet mit dem Finger auf die schlafende Ava, deren Kopf fest mit einem weißen Verband umwickelt ist. Ich sinke wieder in den Sessel zurück und blicke auf die Wanduhr oberhalb der Tür. Vor einer Stunde haben sie Ava ins Zimmer zurückgebracht. Seitdem schläft sie tief und fest. Die Ärzte haben ihr ein Schlafmittel verabreicht, und ich bin mir sicher, dass Avas Kollegin Julie sie bewusst in Lous Zimmer verlegt hat, damit keiner Fragen stellt, wenn ich bei ihr bin. Zum Ärger des Professors, ihrem Ex und zugleich Leiter der Kardiologie. Er kann froh sein, dass er sich noch nicht hier blicken lassen hat, sonst wäre ich ihm nach seiner Aktion bei Ava an die Gurgel gesprungen. Mit voller Absicht hat er sie umgerissen, als die Bombe mit der Schwangerschaft geplatzt ist, und hat dadurch diesen Unfall verursacht. Wenn er ihr noch einmal auch nur ein Haar krümmt …

»Anton?«

»Hm?« Ich sehe auf. Lou hebt ihre Brauen. Nicht zum ersten Mal scanne ich jedes Detail ihrer Gesichter. Die beiden Frauen sehen sich ähnlich, keine Frage, doch je intensiver ich sie studiere, desto mehr Unterschiede erkenne ich. 

»Hast du nichts zu deiner Verteidigung zu sagen?«

Stöhnend lasse ich den Kopf in den Nacken fallen. »Lou, das alles ist schon kompliziert genug.«

»Sehe ich genauso! Du musst dich von all den Frauen auf dieser Welt genau mit meiner Zwillingsschwester einlassen, von der ich bis eben nicht einmal selbst etwas geahnt habe? Was hast du dir dabei gedacht? Erzähl mir nicht, du hättest nicht gewusst, wer sie ist!«

»Anfangs nicht …«

»Und als es dir klar war, hast du keine Sekunde verstreichen lassen, um sie zu schwängern?«

»Das war nicht der Plan …«

»Dann hat sie dich dazu genötigt?« Lou hebt die Hände in die Luft und lässt sie wieder auf die Oberschenkel fallen. Dabei stöhnt sie genervt. 

»Natürlich nicht.« Ich quittiere es mit übertriebenem Augenrollen.

»Dann spuck es aus! Als ich vor ein paar Wochen im Krankenhaus lag, warst du dir nicht zu schade, mit meiner …«, sie legt eine bedeutungsschwere Pause ein. »Mit meiner Schwester in die Kiste zu hüpfen«, flüstert sie, als wäre ihr diese Tatsache unangenehm. 

Schnell springe ich auf und streiche mein Haar zurück. »Ava löst etwas in mir aus. Ich mag dieses Gefühl. Ich mag sie!« Auch wenn ich gerade mit den Neuigkeiten ihrer Schwangerschaft überfordert bin.

Lou beginnt zu lachen. Als ich ernst bleibe, verstummt sie und verschränkt die Arme vor der Brust. Missmutig beginnt sie, an der Innenseite ihres Mundes zu kauen, und schüttelt immer wieder den Kopf. Sie sieht zum Fenster, in die dunkle Nacht hinaus. »Du musst dir jemand anderen für deine Lügengeschichten suchen.«

Ich starre Löcher in die Luft. Irgendwann lege ich den Kopf leicht seitlich und versuche, ihren Blick einzufangen. »Lou …« Keine Reaktion. »Es könnte sein, dass ich Vater werde.« Ach du Scheiße! Diese Worte aus meinem Mund!

»Ihr habt doch bestimmt verhütet! Wie kann das sein? Hast du Beweise?«, schnauzt sie und starrt mich wütend an. 

»Wenn Ava aufwacht …«

»… bist du in Florenz!«, fährt sie mir dazwischen. Ich komme näher und stütze mich auf das Fußteil ihres Krankenbettes. Sofort weicht sie mit ihrem Blick aus. 

»Lou, das, um was du mich da bittest, kann ich nicht tun. Wie würde Ava über mich denken, wenn ich sie nach dieser Neuigkeit einfach alleinlasse? Ich muss hierbleiben, bis sie aufwacht.« 

Meine Einwände sind leiser, als sie sein sollten. Allein der Gedanke, bald Vater sein zu können, macht mir verdammt viel Angst, und Bert, wie ich diese Stimme in mir genannt habe, legt mir seine frostige Hand auf die Schulter.

»Sie würde schnell erkennen, wer du wirklich bist. Freiheitsliebend und nicht beziehungsfähig! Anton, das war keine Bitte! Du fährst nach Florenz und gewinnst die MotoGP. Du hast es mir versprochen! Das bist du mir und vor allem deinen Fans und Sponsoren schuldig. Sie haben auf deine Rückkehr gewartet.« Sie schluckt, dann wischt sie sich eine Träne von der Wange und funkelt mich zornig an. 

»Es geht dir um einen weiteren Sieg? Selbst wenn ich danach meine Karriere beende?«

»Natürlich geht es ums Gewinnen. Du sollst deine Karriere nicht mit einer Auszeit beenden, sondern mit einem Titel. Wir sind Gewinnertypen, Anton. All die Jahre – wozu sonst der ganze Fleiß? Irgendwann wirst du es bereuen und ihr dafür die Schuld geben.« Sie wischt sich mit der Bettdecke über die Nase. »Alles zerfällt wie ein Kartenhaus, seitdem sie in unser Leben getreten ist. Du veränderst dich und das gefällt mir nicht. Du wolltest niemals Kinder haben und nun gibst du selbst dieses letzte, wichtige Rennen für sie auf. Wenn du mich fragst, trittst du gerade das Vermächtnis deines Vaters mit Füßen. Er ist fürs Rennfahren gestorben! Freiheit – das war es doch immer, was uns angetrieben hat, oder? Keine Kinder oder Partner, die uns einengen.«

Mein Kiefer knackt, als ich ihn fest zusammenbeiße. Lou sticht bewusst in meinen wunden Punkt und weckt Bert. Sie hat recht, doch mit Ava hat sich diese Einstellung geändert. Ich sehne mich nach mehr. Ava ist der erste Mensch, mit dem ich mir das vielleicht vorstellen kann. Selbst ein beschauliches Leben und Kinder. Doch ich habe Sorge, meine Gedanken vor Lou auszusprechen und sie damit zu enttäuschen. »Mein Entschluss zu einem Karriereende kam, bevor ich Ava überhaupt kennengelernt habe. Ihr dafür die Schuld zu geben, ist nicht fair, aber das siehst du offensichtlich anders.« 

»Ich sehe uns alle mit dem Rollator umherwandern, wenn Ava das Tempo vorgibt. Sie ist der Diesel im Benzintank.«

»Lou! Es reicht!«, schnauze ich sie an und werde lauter. »Verdammt, du sprichst hier von deiner Schwester, die dir das Leben gerettet hat.«

»Du sagst es. Das ist genau das Problem!«, keift sie zurück und richtet sich auf. Ihre Unterlippe zittert, dabei sollte sie sich nicht aufregen. »Das hier ist meine Schwester!« Sie deutet mit dem Finger auf die schlafende Ava. »Meine! Du hast mir nicht mal die Chance gegeben, sie kennenzulernen, bevor du dich an sie rangeschmissen hast. Du spielst mit ihr und das wird sie kaputtmachen.«

»Es ist traurig, dass du das denkst.«

»Natürlich bewerte ich nicht, wie du bist, denn ich bin dein weibliches Pendant. Aber Ava ist nicht so wie wir.«

»Du wolltest doch selbst, dass ich mit ihr flirte, und nun beschwerst du dich?«

»Da wusste ich noch nichts davon, dass sie meine Schwester ist.« Ihre Stimme überschlägt sich, als sie zu kreischen beginnt.

Ich sehe sie lange an. »Du bist eifersüchtig!«, stelle ich nüchtern fest. »Das verstehe ich, aber ich bin vermutlich bald Vater und du damit Tante. Wir dürfen nicht nur an uns denken. Es geht auch um das Kind.« Oh. Mein. Gott. Ein. Kind! Bert kommt nochmals näher und haucht mir seinen kalten Atem direkt ins Gesicht. Automatisch halte ich meinen an. Ich glaube, ich muss hier weg. Schließlich habe ich Verpflichtungen. Meine Fans. Meine Sponsoren. Mein Sieg. All das werde ich verlieren, sobald ich Gewissheit habe, der Vater dieses Kindes zu sein. Mein Körper spannt sich an. Gereizt presse ich meine Augen zusammen. Sobald sie aufwacht und ich Klarheit über die Sache bekomme, kann ich mich nicht mehr auf das Rennen konzentrieren. Keine Frage, ich muss starten! Ohne Ablenkung.

Lou schüttelt den Kopf und schnaubt. »Vater, dass ich nicht lache. Anton, ich bin von dir enttäuscht. Schau, dass du hier wegkommst und das Rennen fährst.« 

Lou hat recht. Ava wünscht sich bestimmt nicht so einen Typen wie mich als Vater für dieses Kind. Ich sollte so schnell wie möglich abhauen und das tun, was ich kann. Dieses Rennen gewinnen. Danach rede ich mit Ava. Und finde heraus, was sie will. Bis dahin weiß ich vielleicht auch, was ich will.

»Tu mir den Gefallen und lass uns allein!« Lou hat ihren Ich-meine-es-ernst-Blick aufgesetzt.

»Okay, Lou.« Nachzugeben fühlt sich viel leichter an, als es sollte. »Aber bitte erkläre Ava, warum ich nicht hier bin, wenn sie wach wird. Und gib ihr meine Nummer, damit sie sich im Notfall melden kann. Nach dem Rennen werde ich mit ihr reden.«

Ich schnappe meine Lederjacke vom Sessel, sehe nochmals zu Ava, dann zu Lou, die an ihrer Nagelhaut zupft. Für den Moment fühlt es sich leichter an, aufs Bike zu hüpfen und wegzurasen, als diese Veränderung anzunehmen.

 

2. Ava

 

»Aufwachen!« Jemand knufft mich in meine Schulter. 

Mein Kopf dröhnt und ich ächze. Warum schlägt mein Wecker nicht Alarm? Wie viel Uhr ist es? Habe ich verschlafen? Welcher Tag ist heute? Anhand der bevorstehenden Operationen bestimme ich immer den Wochentag. Jedoch kann ich mich an keine erinnern. 

»Aufwachen, Copy!« 

Copy? Ich blinzle und öffne die Lider ein Stück. Neonlichter. Eine weiße Zimmerdecke. Das ist nicht meine Wohnung! Nicht schon wieder das Krankenhaus! Nein, nein, nein! Hektisch beginne ich, meinen Körper abzutasten. Da sind überall Kabel. 

»Gut geschlafen?« 

Da ist die Stimme wieder … Ich stoppe in der Bewegung und lausche. Neben mir vernehme ich ein zweites Piepsen. Es ähnelt dem Rhythmus meines eigenen Herzens. Sofort beschleunigt sich mein eigener Schlag. Das bedeutet nichts Gutes. Einen Atemzug später kneife ich die Lider fest zusammen und bete, dass es nicht schon wieder passiert ist. Das wäre mein dritter Schock innerhalb weniger Wochen. Automatisch fasse ich an die Stelle, an der mein Defibrillator unter meiner Haut liegt, der mich vor lebensbedrohlichem Herzflimmern bewahrt. An meinem Finger hängt ein Messgerät.

»Nein, nein, nein!«, jammere ich, diesmal laut. »Nicht schon wieder!« 

Eine Blutdruckmanschette bläst sich am Arm auf. Das Geräusch reicht aus und mein Puls schnellt noch höher. Sofort presse ich die Augen wieder zusammen. Lenk dich ab! Zählen! Eine Methode, die ich schon seit meiner Kindheit anwende, um mich zu beruhigen. Eins – zwei – drei – vier …

»Du bist im Bett. Wir sind allein. Entspann dich«, höre ich die Person neben mir sagen und lange aufseufzen. »Wer trägt Pelz, sogar im Bett?«

Orientierungslos taste ich die Seiten ab. Bettlaken, so hart wie die in unserem Krankenhaus. »Wie war das?« Mein Kopf scheint unter einen Presslufthammer geraten zu sein. »Welchen Pelz?«, murmle ich.

»Der Faulpelz!«

»Faulpelz?«, wiederhole ich und fasse an meine Stirn. Wo sind meine Haare? Unter einem Verband versteckt. Keuchend versuche ich, mich aufzurichten, doch ich scheitere an den vielen Kabeln. »Was ist passiert?«

»Wo soll ich denn beginnen?« 

Ihre Stimmbänder haben durch die Intubation gelitten. Ich wage den ersten Blick zu Lou. Dort liegt sie – meine Zwillingsschwester! 

»Vielleicht da, wo du mir verschwiegen hast, dass du meine Doppelgängerin bist und dich trotzdem vorsätzlich mit meinem Bruder eingelassen hast, obwohl du weißt, wie nah wir uns stehen? Das ist so ätzend!« Sie fasst sich an ihre Brust und verzieht das Gesicht, als wolle sie zu weinen beginnen.

»Lou, es tut mir so leid, bitte reg dich nicht auf!« 

Sie antwortet mit Würgegeräuschen, lässt sich theatralisch in die Matratze sinken und verdreht die Augen. Es wirkt etwas überzogen, als übte sie für eine Filmrolle. Wäre die Situation nicht zum Verzweifeln, müsste ich jetzt lachen. 

Während meine Haare, die von Natur aus blond sind und durch meine spärliche Freizeit kaum einen Friseurladen von innen sehen, erinnern Lous kinnlange dunkelbraune Haare an das Werk eines geübten Figaros, der tagtäglich hunderte von Models stylt. Okay, im Moment sehen sie aus, als hätte ein Huhn darin gewühlt. 

Das dunkle Bandana‑Band soll bestimmt für Ordnung auf ihrem Kopf sorgen, doch nach einem Koma benötigen die Haare oft ein paar Tage, bis die Druckstellen fort sind und sie wieder natürlich fallen. Durch das eng sitzende Haarband sehen ihre Wangenknochen kantiger aus als bei mir. Ich könnte es auch auf die paar Kilos schieben, die ich bestimmt mehr auf die Waage bringe, jedoch gefällt mir die Theorie mit dem Haarband besser. Über ihre Stupsnase ziehen sich winzige Sommersprossen, die sich bei mir nur dann zeigen, wenn ich ab und zu das Krankenhaus früher verlasse und ein paar Sonnenstrahlen abbekomme. 

Es entgeht ihr nicht, wie neugierig ich sie beobachte und nach Ähnlichkeiten suche. Sie zieht eine Schnute und klopft mit dem Zeigefinger an die Lippen, als wolle sie bei meinem Suchspiel mitmachen. Wer entdeckt schneller die meisten Gemeinsamkeiten? Sie ist, abgesehen von der Frisur und ihrer durchtrainierten Figur, mein lebendes Spiegelbild, aber ich bin ein verdammt ehrgeiziger Mensch und forsche weiter in ihrem Gesicht nach Ähnlichkeiten. 

»Wie geht es dir?«, frage ich sie. »Zuerst der Motorradunfall und dann deine Diagnose.« 

Die Bilder von der Rennstrecke in Italien kommen zurück. Ich musste Lou zweimal reanimieren, bevor sie endlich der rettenden Operation zugestimmt hat. Wir sind uns fremd, und trotzdem habe ich das Gefühl, sie schon mein ganzes Leben lang zu kennen. Die Frau, von deren Existenz ich knapp dreißig Jahre lang nichts gewusst habe, scannt mein Gesicht immer noch sorgfältig. Anscheinend ist sie ebenso ehrgeizig wie ich. Und genauso krank. Wir leiden nämlich beide an einer erblich bedingten Störung der Ionenkanäle, der Mutation eines Gens, die bei Nichtbehandlung mit fortschreitendem Alter zum Herzstillstand führen kann. Ohne das Implantat, das unter meine und nun auch unter Lous Brust verpflanzt worden ist, wäre das Risiko, einen plötzlichen Herztod zu erleiden, signifikant hoch. 

Selbe DNA, identischer Herzfehler und jetzt auch der gleiche Defibrillator.

Einen gravierenden Unterschied gibt es jedoch.

Lou hatte knapp dreißig Jahre keine Ahnung, dass sie an einem Herzfehler leidet, ich wiederum wurde als kleines Kind schon operiert. Gäbe es ein Ranking, wer das bessere Los gezogen hat, würde bestimmt sie gewinnen.

»Mir ging es schon mal besser.« Lou schnaubt. »Aber dein Verrat ist es, der mich unfassbar wütend macht.«

»Gott, Lou, es tut mir so leid …«

»Pscht …«, zischt sie und presst den Zeigefinger fest an den Mund. Unter ihren Augen entdecke ich dunkle Ränder. Sie spiegeln das wider, was ihr in den letzten Tagen passiert ist. Einen Kampf um Leben und Tod. »Du hast ihn bewusst getäuscht. Gib es zu! Er hätte sich niemals mit dir eingelassen, wenn er gewusst hätte, dass du meine Copy bist. Anton weiß, wie schwer es mir fällt, Bindungen einzugehen, und euer Techtelmechtel hilft dabei gerade wenig.« 

Lou hat recht. Reuevoll wende ich den Blick ab und nicke. Ich bin eine Heuchlerin. Langsam beginne ich, einen Überwachungssensor nach dem nächsten von meinem Körper zu lösen. Das EGK‑Gerät kreischt demonstrativ auf. 

»Was machst du?«, herrscht sie mich an.

»Zu meiner Verteidigung kann ich nichts Gegenteiliges behaupten. Es war mir bewusst, dass Anton dein Stiefbruder ist. Du hast jeden Grund, wütend auf mich zu sein! Das sieht mir überhaupt nicht ähnlich, auch wenn das jetzt in keiner Weise etwas rechtfertigen soll.« Der nervtötende Ton des EKGs verstummt, als ich den Ausschaltknopf drücke. »Ich bin stets verantwortungsbewusst und alles andere als kopflos. Was ist nur in mich gefahren? An deiner Stelle wäre ich auch sehr wütend und würde nicht mit dieser Person in einem Zimmer liegen wollen. Deshalb gehe ich jetzt.« 

Offensichtlich war das nicht die Antwort, die sie erwartet hat, denn sie sieht mich überrascht an. Langsam hebe ich die Beine und schiebe sie über die Bettkante, bis ich aufrecht sitze. Sterne beginnen, vor meinen Augen zu tanzen. Vorsichtig kontrolliere ich den Verband und taste mich zu einer eigroßen Beule vor. Hastig wirft Lou die Bettdecke beiseite und setzt sich ebenfalls auf. Sofort fasst sie sich an den Kopf und stöhnt. Ihr Kreislauf scheint genauso wenig mitzuspielen wie meiner. 

»Kommt nicht infrage. Du bleibst schön liegen. Wenn ich hier sein muss, dann du wohl auch!« Sie schnappt sich das Kabel mit dem Notfallknopf. »Sobald ich den drücke, taucht dein Freund, der verrückte Professor, hier auf, und der lässt dich bestimmt nicht weg.« Herausfordernd schwenkt sie das Gerät vor meinen Augen. Ihre Mundwinkel zucken provozierend. »Hab es schon ein paar Mal getestet. Die sind echt schnell. Wollen wir Wetten abgeben, wie lange sie diesmal brauchen?« 

»Oskar?«, keuche ich und sinke ins Bett zurück.

»Der dreht am meisten am Rad! Immerhin hat er dich umgerissen!« 

Ich rufe mir die letzten Stunden ins Gedächtnis. Soweit ich mich erinnere, war ich bei Lou im Zimmer, als sie aus ihrem zweiwöchigen Tiefschlaf aufgewacht ist. Anton war ebenfalls hier. Genauso wie Oskar, mein Mentor, Professor und Leiter der Kardiologie, mit dem ich bis vor einer Weile noch eine kurze Liaison hatte. 

Zermürbt lege ich die Armbeuge auf mein Gesicht und versuche, mein schlechtes Gewissen ihr gegenüber zu verstecken. »Oskar trifft keine Schuld! Ich war ungeschickt und bin auf den Blutproben ausgerutscht, die meiner Kollegin versehentlich aus der Hand gerutscht sind.«

»Red dir das nur ein. Du hättest mal seinen Blick sehen sollen, als er erfahren hat, dass du schwanger bist«, murmelt sie und ich reiße die Augen auf. 

Sofort sitze ich kerzengerade im Bett. In der ganzen Aufregung habe ich dieses wichtige Detail vergessen. Ich bin schwanger! Von Anton! Dem Stiefbruder meiner Zwillingsschwester.

Unsicher schiele ich zu ihr. Mit prüfendem Blick sieht sie mich an und verschränkt die Arme vor der Brust. »Du und der Professor also?« Auf ihrer Stirn bilden sich Falten. »Ihr seid ein Paar? Trotzdem bist du mit Anton in die Kiste gehüpft?« Sie schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Das hätte ich dir nicht zugetraut!«

»Nein, natürlich nicht.« Am liebsten möchte ich mir die Haare raufen. Wären sie nur nicht unter dem Verband versteckt. »Es ist kompliziert. Wo ist dein Stiefbruder denn?«, frage ich vorsichtig. 

»Nur weil du ein ›Stief‑‹ davorsetzt, macht es die Sache nicht besser!« Sie malt Gänsefüßchen in die Luft und ihre nackten Beine wandern zurück unter die Decke. »Anton ist mein Bruder und wie es aussieht, bist du meine Schwester! Das ist krank, Alva!«

»Ava!«, korrigiere ich sie. »Nicht Alva!«

»Sagte ich doch …«, erwidert sie eingeschnappt und schnauft. 

»Du hast Alva gesagt!«

»Rechthaberisch ist sie auch noch«, murmelt sie. »Wie auch immer. Jetzt erklär mir lieber, warum du dich mit meinem Bruder eingelassen hast, obwohl du festgestellt hast, dass wir Zwillinge sind. Illegalerweise, wohlgemerkt. Du hast unsere DNA verglichen, ohne mich zu fragen. Die Wir-haben-so-viel-Zeit-verpasst-lass-uns-alles‑nachholen-Karte hast du eindeutig verspielt. Also?«

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll … Die ganze Sache ist so verfahren!« 

Ich erinnere mich an die erste Begegnung mit Anton in der Notaufnahme. Sofort war klar, dass er eine Gefahr für meinen Herzschlag bedeutet. Ein Blick auf seinen Rennanzug reichte und sein Adrenalin schwappte wie eine Monsterwelle auf mich über. Jeglicher Fluchtversuch war umsonst. Ich konnte bloß dastehen und warten, bis die Welle mich mitzieht. 

»Das mit Anton … es ist einfach passiert.« Seufzend streiche ich über die Bettdecke. 

Ein attraktiver Italiener, der Schnelligkeit und Gefahr verkörpert. Meine Pulsuhr am Handgelenk fiepte aufgeregt wie ein junger Vogel, als er sein Motorrad kurz danach quer über meinen reservierten Krankenhausparkplatz stellte, um sich so meine Aufmerksamkeit zu verschaffen, die er schon seit der ersten Minute gehabt hatte. Anton fegte wie eine Rennmaschine in mein durchgetaktetes Leben. Er wirbelte jeglichen Plan und gewohnten Ablauf durcheinander und katapultierte mich aus meinem warm gesessenen Nest. Vollgepumpt mit allen möglichen Aphrodisiaka, fühlte es sich wie ein Höhenflug an, gefolgt von einer Bruchlandung. 

»Das wiederum nehme ich dir ab. Anton spielt gern bei schnellen Spielen mit, wenn du verstehst.« Lou wackelt mit den Brauen, und ich fühle mich etwas mehr wie ein ausgepacktes Geschenk, das liegen gelassen worden ist, weil der Inhalt nicht gefallen hat. 

»Doch Anton wäre niemals so weit gegangen, wenn du ihm die Wahrheit erzählt hättest.«

Ein Grund mehr, warum er ohne ein Wort verschwunden ist. Wie konnte ich nur so dumm sein und mich auf einen Geschwindigkeitsrowdy – oder wie meine Kollegin Julie ihn nannte: Organspender – einlassen? Und mich dazu noch prompt von ihm schwängern lassen? Vorsicht ist mein zweiter Vorname. Das hätte ich besser wissen müssen, denn diese Art von Beziehungen endet immer in einem Totalcrash.

 Ich versuche, die Momente zu verdrängen, in denen er mir gezeigt hat, dass unter seinem Lederanzug ein vielschichtiger und tiefgründiger Mensch steckt. Er ist wie eine dieser Babuschka‑Puppen, deren kleinster und verletzlichster Teil tief im Inneren geschützt liegt. Auf diese Weise behütet auch Anton seine Geheimnisse. 

»Copy?« 

Hätte ich nur einen Radierer, um diesen Teil meiner Erinnerung zu streichen. So würde es etwas weniger schmerzen. Erneut taste ich das Bett ab, bis ich das Schaltbrett für die Rückenlehne finde. Surrend fährt sie hinauf, bis ich aufrecht neben Lou sitze. 

Langsam drehe ich den Kopf zu ihr. »Anton weiß, was Frauen hören wollen.«

Sie schnaubt. »Erzähl mir etwas Neues.«

Ich beginne, mit der Haut um meinen Fingernagel zu spielen. Eine kindliche Angewohnheit, mit der ich als Erwachsene noch immer nicht aufhören kann. Lou starrt wie gebannt darauf und sofort lasse ich die Hände auf die Bettdecke sinken. 

»Hör mal, Ava.« Ihre Stimme klingt wie die einer Mutter, die ihr trotziges Kind beruhigen will. »Mein Wunsch ist es, euch beide vor etwas zu bewahren, das bestimmt nie funktionieren wird. Anton ist ein Freigeist und du bist eben du! Ihr würdet euch gegenseitig nur enttäuschen, und ich wäre diejenige, die zwischen den Stühlen sitzt. Darauf habe ich echt keine Lust!« Sie beißt sich auf die Innenseite der Wange und fährt sich mit der Hand durch den Wuschelkopf. Auf ihrem Handgelenk erkenne ich denselben Kompass, den auch ihr Bruder tätowiert hat. »Anton ist nicht hier. Er ist zurück in Florenz. Dort, wo er gerade hingehört!« 

»Er ist in Italien?«, frage ich verdattert und spüre einen Stich in meiner Brust. 

»Anton ist Rennfahrer und muss trainieren. Was denkst du? Er ändert sein Leben nicht, nur wegen eurem … eurem …« Sie fuchtelt mit den Händen vor dem Gesicht herum. »Dem, was zwischen euch passiert ist.«

»Das war nie meine Absicht«, erwidere ich mit leiser Stimme. 

»Mach ihm das jetzt nicht kaputt. Er startet am Wochenende bei der MotoGP. Seine Fans zählen auf ihn«, ergänzt sie in der Rolle als strenge Lehrerin und beißt ihre Zähne zusammen. Gedankenverloren starre ich an ihr vorbei. »Er hat hart dafür gearbeitet! Wegen seiner langen Pause muss er sich ranhalten. Er hatte keine Zeit, dein Händchen zu halten, bis du deine hübschen blauen Augen aufschlägst, Copy«, fügt sie hinzu und presst die Lippen zu einer Schnute, als sich unsere Blicke begegnen...

 

 

Auszug aus dem Roman 'Herzschlag in uns'. Veröffentlichung 3.August 2021.

© Mela Wagner, 2021, Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

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