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Leseprobe RESTART - Heute wie damals - Teil 2

 

28.April 2014

 

© Mela Wagner

 

Prolog

 

»Leni, Leni meine süße Leni, komm zu mir.« Paul streckt die Arme nach mir aus, während er etwas angeheitert auf einem Klappstuhl am Dach seiner Eltern sitzt und dabei versucht sein Gleichgewicht zu halten. Er unterstreicht sein lässiges Outfit mit einer tief in die Stirn gezogene Baseballkappe. Seine blonden Haare blitzen dabei leicht hervor.

»Sei nicht so laut, du wirst noch deine Eltern aufwecken und ich kann mir vorstellen, was dir blüht, wenn sie dich in diesem Zustand sehen«, kichere ich, setze mich auf seinen Schoß und wehre seine Hände, die sofort versuchen den Weg unter mein T-Shirt zu finden, ab. Grinsend schiebe ich ihn bei jedem Ansatz, mir an die Wäsche zu gehen, weg.

»Leni, du bist so süß, so zuckersüß wie Honig«, raunt Paul in mein Ohr, als er mich vorsichtig an sich zieht und meinen Hals zu liebkosen beginnt. »Komm, du willst es doch auch.« Für einen kurzen Moment gebe ich mich der Sehnsucht hin, ihm endlich nahe zu sein und kuschle mich an seine Schulter. Er sieht es als Bestätigung seiner eindeutigen Avancen. Sein Duft dringt mir in die Nase und automatisch - als hätte er einen Hebel umgelegt - schließe ich meine Augen. Ich genieße den Augenblick, spüre seine Berührungen, sehne mich nach so viel mehr und spreche mir selbst Mut zu. Ich setze mich rittlings auf ihn. Er stöhnt begeistert auf, greift nach meinem Gesäß und zieht es noch etwas näher an sich, sodass ich unter mir seine spürbare Begeisterung wahrnehme. Erschrocken und beschämt senke ich den Kopf. Es fühlt sich so fremd an, dass es mir die Röte ins Gesicht treibt. Er beginnt verwegen zu lachen, als er meine Reaktion bemerkt.

»Du bist so süß, so unerfahren und mädchenhaft. Leni, du weißt gar nicht, wie sehr ich dich begehre.«. Die Farbe seiner Augen wird eins mit dem dunklen Nachthimmel, der uns umgibt. Mein in der Brust hämmerndes Herz gibt mir die Gewissheit, nicht schon in Ohnmacht gefallen zu sein. Nervosität vermischt mit Euphorie lösen in meinem Körper unzählige Feuerwerke an Gefühlen aus. Das Kribbeln in meinem Bauch war in seiner Nähe schon immer intensiv, doch das was ich jetzt gerade empfinde, stellt alles in den Schatten. Seine Hände gleiten über meine Haut, wandern an mir hinunter und ertasten Stellen an meinem Körper, die bislang noch unberührt waren. Gänsehaut läuft meinen Rücken hinab. Fordernd zieht er mich an meiner Bluse zu sich, hält dabei stetig meinen Blick fest. Ein verruchtes Lächeln umspielt seinen Mund. Uns trennt nur noch ein Hauch, bevor ich am Ziel meiner Wunschvorstellungen angekommen bin. Ich nehme den Geruch von Alkohol, vermischt mit Zigaretten und Pfefferminze wahr, als unsere Lippen die letzten Millimeter noch trennen. Die Luft zwischen uns beginnt zu vibrieren. Schnelle und heftige Atemzüge dringen aus meiner Kehle.Ich entdecke an seiner rechten Wange ein leichtes Grübchen, das immer sichtbar wird, wenn er lächelt und sofort meine Aufmerksamkeit an sich zieht. Wie oft habe ich mich nach diesem Moment gesehnt. Wie sehr waren meine Träume genau von so einer perfekten Situation geprägt. Nächtelang habe ich fantasiert, ihm endlich auf diese Art und Weise nahe sein zu können. Ich habe sogar ein eigenes Paul-Tagebuch begonnen, das nur ihm und meiner Liebe zu ihm gewidmet ist.

»Du bist so anders als alle anderen Mädchen...« Ich lächle verschämt. »...keine war bis jetzt so wie du!« Will ich das in diesem Moment wissen? Will ich wissen, wieviele er vor mir hatte? Seine Worte verwirren mich.

»Lass endlich los. Sei nicht so verkrampft. Ich werde dich auf eine Reise mitnehmen.« Schützend, um einen gewissen Abstand zu wahren, lege ich meine Hände auf seine Brust, versteife mich und bin ernüchtert von seinen Worten. Die romantische Stimmung ist dahin. So, als wäre ich mit voller Wucht gegen ein dickes fettes Stoppschild gerannt, überkommt mich Ärger, Wut, Angst. Instinktiv fühle ich, dass ich mich vor Pauls trügerischem Charme schützen muss. Mach dir doch nichts vor! Warum sollte es bei mir anders sein. Ich bin eine von vielen. Sobald er sein Ziel erreicht hat, wird er mich ebenso abservieren wie alle meine Vorgängerinnen.

»Nein...!«, kommt es leise aus meiner Kehle. Nicht wirklich überzeugend. Paul hört nicht auf seine Küsse auf meinem Körper zu verteilen.

»NEIN!«, widerwillig drücke ich ihn von mir weg, sehe wie er erschrocken von meinem Hals ablässt, an dem er sich spürbar verewigt hat und springe wie von der Tarantel gestochen auf.

»Ich will das nicht. Nicht so.«, stoße ich ihn empört von mir.Amüsiert beginnt er zu lächeln. Anscheinend ist diese Situation für ihn neu. Zurückweisung. Er zieht eine blaue Zigarettenschachtel aus seiner Hose, greift nach einer Zigarette, deutet mir an, auch eine zu nehmen, - was ich natürlich verneine -, grinst und zündet sich den Glimmstängel an. Verrucht wie James Dean zieht er den Rauch ein, atmet hörbar aus und bläst eine Tabakwolke in meine Richtung. Er stützt seine Ellbogen auf die Knie und zieht seine Stirn in Falten, als er zu mir aufblickt.

»Süße, erst rennst du mir wie ein kleines Mädchen wochenlang hinterher und dann willst du mich nicht ranlassen? Was soll der Mist?«, meint er pikiert.

»Ich renne dir nicht hinterher!«, versuche ich mich kläglich zu verteidigen und merke wie mein Gesicht knallrot anläuft. Jeder Vollidiot wäre sich in diesem Moment meiner Lüge bewusst.

»Ich werde aus dir nicht schlau...!«, genüsslich zieht er an seiner Zigarette, steht vom Stuhl auf, beginnt, sein durch den Alkohol fehlendes Gleichgewicht wiederzufinden und geht einen Schritt auf mich zu. Ein paar Zentimeter bleibt er vor mir stehen. Ich fühle mich neben ihm so klein. Sein muskulöser Körper baut sich vor mir auf. Wie gerne möchte ich meine Hand heben, um sie auf seine Brust zu legen. Musternd, als wäre ich von einem anderen Stern, legt er seinen Kopf schief und beginnt dabei herablassend zu lachen. Sofort schwenkt meine Sehnsucht in Ärger um. Ich könnte ihm in diesem Moment an den Hals springen, doch stattdessen stehe ich vor ihm und merke, wie meine Augen feucht werden. Ich hoffe, dass er meinen verräterischen Anflug an Emotion nicht gesehen hat.

»Schon gut Süße, du hattest deine Chance.« Wie bitte?

»Du bist der größte Mistkerl, den ich kenne!«, ungestüm drehe ich mich um und fauche ihn zornig an. Ich hole wutentbrannt aus und knalle ihm meine flache Hand gegen seine Wange. Erschrocken über mich selbst, reiße ich die Augen auf. Verblüfft reibt er sich die Stelle an seiner Wange. Die Luft ist explosionsartig geladen. Trotz meiner Enttäuschung spüre ich noch immer wie er mich anzieht. Er lacht höhnisch auf und legt den Kopf dabei in den Nacken.

»Was hast du dir vorgestellt? Den Ritter in der eisernen Rüstung? Ich weiß nicht, welche Erwartungen und Wünsche du hegst, doch ich kann dir gleich sagen, dass diese ganze Rederei über Liebe absoluter Schwachsinn ist. Finde dich lieber schnell damit ab, sonst wird einmal das böse Erwachen nicht mehr zu verhindern sein.«, sichtlich belustigt, jedoch mit einem Anflug von Sarkasmus, klingen seine Worte herausfordernd und gehässig. Es wirkt auf mich, als nötigt ihn sein Ego zur schnellen Rechtfertigung.

»Du tust mir leid...«, antworte ich traurig. Er lacht geringschätzig. »...aber irgendwann wirst du an den Punkt, an dem du mit deiner Macho Tour nicht mehr punktest. An dem du das erste Mal Gefühle in dir spüren wirst, die deine ganzen fraglichen Wertvorstellungen in ein anderes Licht rücken. Ich weiß nicht was dich so oberflächlich und herzlos gemacht und dir den Glauben an die Liebe geraubt hat, aber ich hoffe, dass du irgendwann selbst spürst, wie sich diese Worte anfühlen, wenn sie dir an den Kopf geworfen werden...«, ich blicke auf und schaue in seine wunderschönen grünblauen Augen, möchte noch einmal diesen Moment auskosten, bevor ich fortsetze und bewusst all meine Träume augenblicklich vernichten werde. »...nicht weil ich dir etwas Schlechtes wünsche, sondern weil du dann trotz deines verschlossenen Herzens vielleicht etwas zu spüren beginnst.«

Sekunden verstreichen, in denen er mich wortlos anblickt und mit keiner Geste verraten würde, was er sich gerade denkt. Momente des Schweigens, eine Verbindung zweier Herzen die anscheinend immer nur ich wahrgenommen habe. In dem Bewusstsein, nun alles zwischen uns zu zerstören, wende ich meinen Blick von ihm ab. Paul Franke ist weder ein Gefühlsmensch noch jemand, der sich auf eine feste Beziehung einlassen würde, doch für einen Wimpernschlag fühle ich, dass ihn meine Worte vielleicht doch berühren. Er wirkt etwas verunsichert und die übliche Schlagfertigkeit lässt auf sich warten. Er ist ein Sunnyboy, Macho, Frauenheld, ein Herzensbrecher, doch alles andere als einfühlsam.

»Bist du jetzt fertig mit deiner Gefühlsduselei?«, erwidert er herablassend und völlig emotionslos. Ich beobachte ihn, wie er lange an seiner Zigarette zieht und den Rauch in die Luft bläst.

»Das ist alles, was ich dir zu sagen habe.« Mit den ruhig gesetzten Worten verabschiede ich mich, drehe ihm meinen Rücken zu und verschwinde. Ich bin enttäuscht, zutiefst gekränkt und ärgere mich über meine Naivität. Paul Franke hat die letzten Monate mein Leben komplett auf den Kopf gestellt und nun ist es Zeit ein neues Kapitel in meinem Leben aufzuschlagen. Ohne ihn.

 

 

Kapitel 1

 

»Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten beginnen wir mit dem Landeanflug. Wir bitten Sie nun, wieder Platz zu nehmen und sich anzuschnallen. Bitte schalten Sie alle elektronischen Geräte aus. Vielen Dank. Ladys and Gentlemen, in just a few …«

Ich beobachte die Flugbegleiterin, deren Lippen sich synchron zu dem Gesprochenen aus den Lautsprechern bewegen. Ihre Arbeitsuniform leuchtet in roter, warnender Signalfarbe. Der Rock, die Weste und die dazu passenden Strumpfhosen sind farblich abgestimmt. Freundlich strahlt sie die Passagiere an. Ihre Wörter klingen auswendig gelernt – monoton und mit wenig Emotion. Ich starre sie unentwegt an und nehme ihre Stimme nur noch im Unterbewusstsein wahr. Fest drücke ich die Schachtel an meinen Körper und merke, wie sich mein Puls erhöht. Meine Hände sind feucht und ich beginne zu frieren.

»Bitte stellen Sie Ihre Rückenlehnen in eine senkrechte Position …«, höre ich sie wieder. Vorsichtig streiche ich ein paar Mal über die kunstvoll bemalte indische Box aus Palisanderholz. Feine Miniaturmalereien, die Elefanten und Kamele zeigen, zieren den Deckel. Die Schachtel wurde ein paar Mal mit einem bunten Band umwickelt, darunter steckt der Brief meiner Mutter. Langsam und Wort für Wort lese ich mir ihre Zeilen durch. Immer wieder bekomme ich einen Kloß im Hals, sobald der Sinn ihres Geschriebenen auch mein Herz erreicht. Ich bin mir nicht sicher, ob es richtig war in das Flugzeug zu steigen, doch wie unter Zwang habe ich die wichtigsten Dinge zusammengepackt, ein Taxi gerufen und sitze nun wenige Stunden später hier im Flugzeug. Behutsam streiche ich den Brief meiner Mutter glatt, der durch meine Tränen schon etwas wellig geworden ist. Ich bemühe mich, ihre Nachricht nochmals zu lesen, doch die Tränen in den Augen trüben meinen Blick. Das kleine Mädchen neben mir zupft an meiner Bluse. Ihre Augen strahlen mich an.

»Was ist in dieser Box?«, fragt sie mit kindlicher Neugier.Ich wische die Tränen aus meinem Gesicht und versuche ihr zuzulächeln. Ich habe eine Vorahnung, die ich nicht aussprechen will. Die Gewissheit werde ich erst bekommen, wenn ich wage, sie zu öffnen. Ich zucke mit den Schultern.

»Ich vermute, das ist eine Überraschung«, meine ich gedankenverloren.

»Vielleicht ein Schatz?«, neugierig mustert sie das Kunstwerk in meinen Händen. Ich beginne zu schmunzeln und nicke ihr zu. »Ja, darin ist ein Schatz«, flüstere ich.Ich blicke erneut auf das abgenützte Papier in meinen Händen.

 

Meine liebe Leni,

in dieser Schachtel findest du die Antwort auf viele offene Fragen. Bitte entschuldige, dass ich sie dir nicht schon viel früher gegeben habe. Dies geschah nur aus Sorge um dich. Längst verheilte Wunden sollten nicht wieder aufgerissen werden. Öffne die Schatulle deiner Vergangenheit, öffne dein Herz und beginne dich selbst wieder zu spüren. Finde zurück zu dir und zu dem Menschen, der du einmal warst und eigentlich sein willst.

In tiefer Verbundenheit,

Deine Mami

 

 »Entschuldigen Sie?« Ich blicke erschrocken auf. Eine warme Hand liegt auf meiner Schulter. Die Flugbegleiterin, die gerade noch in das Mikrofon gesprochen hat, lächelt mich freundlich an. »Sie müssen sich anschnallen«, meint sie ruhig, doch bestimmt. Ich nicke ihr geistesabwesend zu und schließe den Gurt um meinen Bauch. Unentwegt halte ich dabei die Schachtel in meinen Händen. Das kleine Mädchen blickt aus dem Fenster und beobachtet, wie die Maschine langsam mit dem Sinkflug beginnt und die ersten Häuser am Boden sichtbar werden. Aufgeregt deutet sie ihrer Mutter hinzuschauen. Sie versucht, sie zu beruhigen und ihre Nervosität zu stillen. Ich kann ihr Gefühl so gut nachempfinden. Als ich das Flugzeug verlasse, verstaue ich alles in meinem kleinen Trolley und verabschiede mich im Vorbeigehen bei der netten Flugbegleiterin.

»Ziehen sie sich warm an, es hat geschneit ...«, ruft sie mir noch zu, bevor ich die Maschine verlasse. Hüpfend geht das kleine Mädchen an der Hand ihrer Mutter vor mir. Ich winke ihr zum Abschied noch einmal zu und sehe, wie beide beim Ausgang von einem Mann abgeholt werden, dem das Mädchen freudestrahlend entgegenläuft und ihn laut mit „Papi, Papi“ begrüßt. Gedankenversunken halte ich inne und beobachte die wiedervereinte Familie.Als ich das Gebäude verlasse, merke ich erst, wie recht die Flugbegleiterin hatte. Eine dicke weiße Schneedecke überzieht die Straßen und erschwert den Autos voranzukommen. Hier herrscht das pure Chaos. Schneegestöber, fluchende Menschen und ein eiskalter Wind, der mir hunderte Schneeflocken ins Gesicht bläst, erschweren das Vorankommen. Es ist schon dunkel. Viele Leute drängen durch den überfüllten Ausgangsbereich.

Bepackt mit großen Taschen und Geschenken hetzen sie zu ihren Familien, um das Fest der Liebe zu feiern. Keiner erwartet mich, denn ich habe niemanden von meinem Kommen erzählt. Es ist genau noch eine Woche bis Weihnachten. Je näher dieser Tag rückt, desto genervter und ungeduldiger werden alle. Zu keiner anderen Jahreszeit streitet man so viel mit seinen Liebsten.

Erwartungshaltungen werden nochmals in die Höhe geschraubt und oft nicht erfüllt. Für eine perfekte Grundstimmung ist somit gesorgt. Energisch streife ich meinen dicken Mantel über, ziehe den Gürtel fest und marschiere schnellen Schrittes zu den Taxis, die leider recht spärlich vorhanden sind. Ich habe Glück und erwische ein freies. Es ist, als ob es auf mich gewartet hätte. Ich atme tief durch und lasse mich in die weiche Polsterung des Taxis fallen. Im Radio läuft „Last Christmas“ von Wham.

 

Die verschneite Landschaft und die Lichterketten, die von den weißen Bäumen hervorblitzen, verzaubern die Landschaft und erwecken Kindheitserinnerungen.Als wir in die Straße meines Elternhauses einbiegen, ist diese kaum zu erkennen, weil dicke Schneehauben die Straßenlaternen verhüllen. Hierher verirrt sich nur selten ein Schneepflug. Der hohe Schnee verhindert das Weiterkommen. Der Taxifahrer lässt mich am Anfang der Straße aussteigen. Ich kann mich glücklich schätzen, diesmal mit gemütlichen Schuhen unterwegs zu sein. Die Lichter des Taxis verschwinden schneller, als mir lieb ist und so stehe ich einsam und verlassen in der dunklen Nacht. Mühsam ziehe ich den Trolley durch den hohen Schnee. Meine Schuhe werden mit jedem Schritt kälter, da der Stoff diesen Witterungsverhältnissen nicht Stand hält. Was bleibt mir anderes übrig als einfach weiterzugehen. Das Geräusch des frischen weichen Pulvers unter mir hört sich wunderbar an. Schneeflocken fallen vom Himmel und behindern meine Sicht. Als ich vor dem Haus meiner Eltern ankomme, ist alles finster. Kein Licht scheint aus den Fenstern. Ich ziehe den Schlüssel aus meiner Tasche, sperre die Tür auf und taste nach dem Schalter, der sofort den Eingangsbereich erhellt. Der Duft von frischen Tannenzweigen und Vanille kommt mir entgegen. Mit viel Liebe hat meine Mutter das Haus in einen Ort verwandelt, der weihnachtliche Stimmung aufkommen lässt. Ich schlüpfe aus meinen nassen Schuhen, stelle mein Gepäck ab und schleiche vorsichtig wie ein Dieb durch mein eigenes Elternhaus. Irgendwie fühlt es sich seltsam an. Schon lange Zeit war ich hier nicht mehr allein. Zögernd betrete ich mein altes Kinderzimmer. Der Flug hat mich geschlaucht und ich sinke müde auf die kindliche Tagesdecke meines Betts. Zärtlich streife ich ein paar Mal über den ausgeblichenen Stoff. Ich krame die Schachtel aus meiner Tasche hervor, positioniere sie auf meiner Kommode so, dass ich sie vom Bett aus gut sehen kann und starre sie gefühlte Stunden an. Vorsichtig nehme ich die Box in die Hand und überlege sie zu öffnen.

Sie zieht mich magisch in den Bann, möchte geöffnet werden, fordert mich auf, endlich zu handeln. Zugleich habe ich große Angst, damit den Geist der Vergangenheit heraufzubeschwören. Langsam entferne ich das Band. Mein Herz klopft bis zum Hals. Ich öffne behutsam den Knoten. Mein Atem stockt, als ich den Inhalt sehe.

Automatisch schießen die Tränen ein. Ganz oben liegt das Tagebuch, das ich seit dem Tag der Abtreibung nie wieder in meinen Händen gehalten habe. Darunter liegen unzählige Briefe mit Pauls Handschrift. Paul!

Ich ziehe die Briefe an meine Nase, versuche ihm auf diese Art näher zu sein und beginne tief aus meinem Herzen zu schluchzen.Zaghaft öffne ich die ersten Seiten meines Tagebuchs und lese die Zeilen. Dann öffne ich den obersten Brief. Mein Herz verkrampft sich als ich Pauls Worte zu lesen beginne.

 

HoneyBee,

 

nach vier ernüchternden Tagen des Wartens auf dein Zurückkommen beginne ich mir wirklich Sorgen zu machen. Keiner will mir sagen wo du bist. Wie kannst du mir das antun? Nachdem wir all das gemeinsam durchgemacht haben! Warum? Warum bist du einfach verschwunden, ohne ein Wort zu sagen? Ich verstehe es nicht. Warum bist so verdammt egoistisch? Ich kann ohne dich nicht leben. Ich kann mich ohne dich nicht lieben!Du gehst, verabschiedest dich von allem, was wir hatten und lässt mich mit gebrochenem Herzen zurück?Ich weiß, vergangene Woche war nicht einfach und ich habe das Gefühl, einen großen Fehler gemacht zu haben.Ich kann dir versichern, mag jeder Berg noch so steil und jedes Gewitter noch so angsteinflößend sein, ich werde immer an deiner Seite gehen. Ich halte keinen weiteren Tag ohne dich aus. Bitte schreib mir, wo du bist. Ich werde mich sofort auf den Weg zu dir machen.Ich kann es kaum erwarten dich wieder in meinen Armen zu halten, um dir zu sagen, wie sehr ich dich liebe. Ich verstehe, dass du nach der ganzen Geschichte Abstand brauchst. Doch lass dir nicht so viel Zeit, denn ich zerbreche an deiner Abwesenheit. Manchmal wünschte ich, ich hätte dich niemals kennengelernt, doch im selben Moment verfluche ich mich für diesen Gedanken, denn ich würde niemals wissen, was Liebe bedeutet. Leni, bitte komm zurück.

Zurück zu mir.

Ich liebe dich – bis zu den Sternen

 

Paul

 

Zehn Jahre nachdem diese Zeilen geschrieben wurden, sitze ich auf dem Bett meiner Kindheit und lese seine verzweifelten Worte das erste Mal. Was es bei mir auslöst? Den Wunsch, ihm ganz schnell nahe zu sein. Doch was sind schon Wünsche? Spiegelbilder einer Realität die manchmal schwer in Erfüllung gehen. War es richtig, hier herzukommen? Warum bin ich Hals über Kopf in dieses Flugzeug gestiegen? Warum sitze ich nun hier? Was wollte ich damit bezwecken? Mit jedem Brief, den ich öffne, wird die Sehnsucht meines Herzens nur noch größer. Ein unsichtbares Band zog mich, ohne nachzudenken in dieses Zimmer und ich spüre, es ist endlich an der

Zeit, mein Leben in den Griff zu bekommen.

 

Die letzten Monate in Paris haben aufgezeigt, dass ich so nicht mehr weiterleben kann.

Ich bin körperlich erschöpft und bekomme kaum noch Schlaf, da mich meine Vergangenheit ständig in meinen Träumen quält. Keine Nacht vergeht, in der ich nicht schweißgebadet und mit schlimmer Atemnot aufwache. Ich habe es eingesehen. Ich benötige Hilfe. Doch nicht Hilfe, die ich von einem Therapeuten bekomme. Ich brauche meine Familie. Ich sehne mich nach einem Zuhause, das ich selbst nach Monaten in meiner kleinen Wohnung im Herzen von Paris nicht finden konnte. Tagtäglich meinem Beruf mit der gleichen Konsequenz und Härte, wie in Wien nachzugehen, schaffe ich nicht mehr. Dies ist auch meinem neuen Chef nicht entgangen. 

Nun bin ich auf der Suche nach Geborgenheit. Ob ich sie hier finden werde, weiß ich nicht. Die Verzweiflung führt einen gewöhnlich dort hin, wo man das Gesuchte verloren hat.

In ein paar Wochen steht mir der Rechtsstreit mit meinem Mann bevor. Die Einladung zum Scheidungstermin habe ich von seiner Anwaltskanzlei in einem unpersönlichen Schreiben bekommen. Ich erwarte mir nichts mehr von Christian, zumindest aber eine friedliche und respektvolle Trennung nach fünf Jahren Ehe. Nach unzähligen unschönen Berichten in den Zeitungen und Drohungen weiß ich es heute besser. Manchmal verstehe ich ihn, denn er hat sich in eine Frau verliebt, die so nicht mehr existiert. Verständlicherweise lässt er nun seine ganze Wut an mir aus. Ich habe seine perfekte Welt zerstört.

 

Ein Urlaub war absolut notwendig. Die Einsamkeit konnte selbst mein stressiger Job nicht kompensieren. In Wien scharten sich wenige Freunde um mich. In Paris so gut wie keine. Am Abend sitze ich einsam in meiner Wohnung und habe viel Zeit nachzudenken. Meist schweifen meine Gedanken zu Paul. Auch wenn ich es wollte, bringe ich ihn nicht mehr aus meinem Kopf. Seitdem ich Wien verlassen habe, herrschte Funkstille. Kein einziges Mal habe ich mich bei ihm gemeldet. Selbstvergessen streiche ich über Pauls Briefe. Die Sehnsucht ihn wiederzusehen wird immer größer.

 

© Mela Wagner, Restart- Heute wie damals,  2014, Fehler können noch enthalten sein. Dieser kann auch noch geringfügig verändert werden. 

Der Text unterliegt dem Urheberrecht. Die Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und jede Art der Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtes bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin.  

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