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Träume im Winterland

 

©Mela Wagner 2022

1. Kapitel – Hanna

»Ausgeschlossen! Das kommt nicht in Frage! Wie kommst du bloß auf diese schwachsinnige Idee?« Sabrinas Gesicht nimmt eine ungesunde Farbe an. Um ihren Worten noch mehr Ausdruck zu verleihen, fuchtelt sie mit der Postkarte, auf der einige Huskys abgebildet sind, vor meinen Augen herum.

»Was bleibt mir denn anderes übrig?« Auf eine weitere Diskussion mit ihr kann ich verzichten. Der Tag war lang genug. Mühevoll hieve ich den Stapel Zeitschriften in den Karton. Die letzte Ausgabe der Fernwehliebe liegt oben auf. Kreuzfahrten am Mittelmeer. Die schönsten Hotspots. Es wäre besser, sie alle im Altpapier zu entsorgen, doch mein Herz blutet, wenn ich daran denke, wie viel Zeit und Liebe ich in jeden einzelnen Reisebericht gesteckt habe. Überlastet schnaufe ich und klinge bei jeder Kniebeuge wie eine alte Frau, die neben den fitten Besuchern des Eiffelturms die Treppen hinaufächzt.

»Vergiss diesen Idioten. Er hat dich und deine Ideen nicht verdient.« 

Beim Durchblättern entdecke ich das Porträt unseres Chefredakteurs, an dem Sabrina kein gutes Haar lässt. Die Arbeit bei der Zeitung hat mir immer Spaß gemacht. Über die schönsten Orte der Welt zu schreiben, war wie ein Sechser im Lotto. Ein perfektes Leben, wäre nicht mein sexistisch denkender und ständig zu Übergriffen neigender Chef gewesen. Ich korrigiere. Ex-Chef! Meine öffentlich bekundete Meinung über sein Fehlverhalten kam nicht sonderlich gut an und führte noch auf meiner letzten Dienstreise zur Kündigung. 

Sabrina streicht über meine Schulter. »Du solltest die Magazine aufheben. Deine Berichte waren die Besten.« 

Obwohl mir zum Weinen zumute ist, kitzelt Sabrina ein kleines Lächeln aus mir hervor. »Das sagst du, weil du meine beste Freundin bist.« Die Zeitschrift landet auf dem Berg an Erinnerungen, die ich dort die letzten Jahre gesammelt habe. »Das liegt hinter mir!« Entschieden schnappe ich den Karton und hieve ihn auf den Rest meiner Habseligkeiten, die bescheidene vier Schachteln ausmachen. 

»Nichts Schweres heben!«, ermahnt mich Sabrina. 

Mucki macht sich in meinem Bauch bemerkbar. Bisher verschlief sie die Packerei. Lebhaft boxt sie gegen meine Rippen. Ihr Platz wird tagtäglich kleiner. 

Sabrina merkt, wie ich zusammenzucke, fackelt nicht lange und reißt mir den Karton aus der Hand. »Hanna López, wenn du nicht sofort Ruhe gibst, binde ich dich an diesen Stuhl!«

»Sabrina, ich bin schwanger, nicht krank!« Ich fasse an ihre Wespentaille, die in ihrer Highwaist-Jeans noch schmaler wirkt, um bei ihrem Versuch, mich auf den Stuhl zu verfrachten, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Früher kam es öfter vor, dass wir unsere Kleidung tauschten, doch allein der Gedanke, mich in eines der engen Hosenbeine zu quetschen, lässt die Schweißperlen auf meiner Stirn wie nach einem Fitnesstraining fließen. 

»Du bist hochschwanger! Da trägt man nicht mehr schwer!«

»Das ist mein spanisches Temperament, das mir angeblich im Blut liegt.« Passend dazu blicke ich auf das gerahmte Bild, das ich von meinen leiblichen Eltern besitze. 

»Schweden! Warum ausgerechnet Schweden? Du kennst dort nicht mal jemanden«, motzt Sabrina und fasst ihre dunkelbraunen, frisch geschnittenen, kinnlangen Haare zu einem Minipferdeschwanz im Nacken zusammen. Ich liebe es, wenn sie sich nicht hinter der Menge an Haaren versteckt und ihre hohen Wangenknochen und ihr elfenmäßiges Gesicht der Welt präsentiert.

»Ole wohnt in Schweden.«

»Pf!« Demonstrativ verdreht sie ihre Augen, in deren Iris wie bei einem Regenbogen eine Vielzahl an unterschiedlichen Pigmentierungen gesprenkelt ist. »Dieser Ole!«

Im nächsten Augenblick lagert sie meine Beine auf einen der Kartons hoch. Sie weiß, dass meine Fesseln seit den letzten Tagen stark anschwellen und die Füße nur noch in die abgetretenen Sommersneakers passen. 

»Wo soll ich die nächsten Monate unterkommen? In deiner Studenten-WG? Joblos bekomme ich keine neue Wohnung.« 

Wehmütig blicke ich auf die kahlen Wände meiner Zwei-Zimmer-Wohnung im Herzen von München. Obwohl ich dafür monatlich ein Vermögen bezahlt habe, werde ich diesen Ort vermissen. 

Geschäftig rollt Sabrina die letzten Gläser in altes Papier und schichtet sie in eine Plastiktasche. Ein paar ihrer frisch geschnittenen Haarsträhnen purzeln aus dem Gummiband und wippen bei jeder Drehung mit. Automatisch prüfe ich meine ausgefransten Spitzen, die an einen Tannenbaum erinnern. Mein letzter Friseurbesuch liegt ein ganzes Jahr zurück, und so habe ich – aus Mangel an Alternativen – entschieden, sie auf die Länge von Rapunzel wachsen zu lassen. Bis dahin wird es noch einige Jahre dauern, denn gerade reichen sie mir ein Stückchen über die Brust. Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden und woran wäre besser gespart als an dem stumpfen Braunton meiner Haare? 

»Hast du nicht Verwandte in Spanien?«

»Meine Mutter gab mich mit drei Wochen ab. Das Bild ist der einzige Hinweis auf meine Wurzeln.« 

Sabrina betrachtet die vergilbte Fotografie, die durch das viele Abtasten den Eindruck erweckt, aus einer anderen Zeit zu stammen.

»Wenn ich Ole, diesen Idioten, in die Finger bekomme.« Sabrina findet kein gutes Wort für den Matrosen, der mir vor neun Monaten hinter der Bar die besten Cocktails mixte. »Wenn du mich fragst, hat er die Nachrichten auf Facebook gelesen, doch ignoriert sie.« 

»Die Küchenuhr darf ich nicht vergessen!«, lenke ich ab, denn ich habe keine Lust mehr, mir den Kopf über Oles Funkstille zu zerbrechen. Ein Zeiger wandert auf die drei. 

Die Uhr ist ein Andenken an die Region, aus der meine Mutter vermutlich stammt. Ein kleines Dorf in Andalusien. Vor ein paar Jahren reiste ich in die hügelige Landschaft an der Südküste Spaniens und forschte nach meinen Wurzeln. 

Sabrina weiß, welche Bedeutung dieses Souvenir für mich hat. Sie reicht mir den Rahmen mit dem Bild meiner potenziellen Eltern und positioniert den zweiten Stuhl unter die Tür. Mit ihren ein Meter fünfundsiebzig stellt diese Aufgabe sie vor keine Herausforderung. 

Aus dem selbstgebastelten Rahmen strahlt mir ein Mann, der einer Frau die Hand um die Hüfte legt, entgegen. Es entstand in einer der für diese Region typischen verwinkelten Gassen. Ein stattlich gewachsener deutscher Tourist grinst neben meiner Mutter fröhlich in die Kamera. 

»Hast du noch mal etwas von dieser Ahnenforscherin gehört?«

Seufzend verpacke ich den Rahmen in Zeitungspapier und lege ihn vorsichtig in eine der Kisten. »Nein, leider nicht. Keine Spur von meinen Verwandten. Es wirkt, als hätte es sie nie gegeben.«

»Ich bin mir sicher, dass du bald von ihnen hören wirst.«

»Meine damalige Heimleiterin meinte, ich soll mir nicht zu viele Hoffnung machen.« Seit ich denken kann, war ich auf mich selbst gestellt. Mit achtzehn reiste ich nach Deutschland und begann in München zu studieren. Je näher Muckis Geburt kommt, desto mehr sehne ich mich nach einer Familie, die mich in dieser Zeit unterstützt. Bis auf meine beste Freundin und ein paar ehemalige Arbeitskollegen hält mich niemand hier in München. So verloren, wie die paar Kisten im Vorzimmer wirken, sieht es in mir aus.

»Autsch!« Mucki gibt Gas und verwechselt meine Rippen mit einem Boxsack. Um sie zu beruhigen, streiche ich über die große Kugel und schließe die Augen.

»Ruh dich aus. Den Rest schaffe ich allein!« Sabrina reicht mir eine Thermosflasche. Seit gestern läuft nicht mal mehr Wasser durch die Leitung. »Wie geht es dem Mäuschen da drinnen?« Sie setzt sich neben mich und beginnt ein Gespräch mit Mucki. Ihre Stimme wandert ein paar Oktaven höher. »Hoffentlich kommst du mehr nach deiner Mutter als nach deinem schwedischen Papa, diesem Casanova!« Mein Bauch hüpft, als ich auflache. »Der Barmann verdreht mit seiner Uniform und den leuchtend blauen Augen den Frauen auf dem Kreuzfahrtschiff reihenweise die Köpfe.«

»Hör auf damit. Mucki kann doch nichts dafür, wenn sich ihr biologischer Vater nicht meldet.«

»Hat er auf keine deiner Nachrichten reagiert?«

»Wenn es so wäre, dann wüsstest du es.«

»Und du bist dir sicher, dass diese Postkarte von dem Kaff ist, aus dem er stammt?«

»Der Ort heißt Lillaström. Ole erwähnte immer wieder die Huskyfarm, die er dort besitzt.«

»Lillaström? Das klingt, als läge es irgendwo im Nirgendwo.«

Sie hat recht. Ich musste ebenfalls erst recherchieren, wo sich die Heimat von Muckis Verwandtschaft befindet. »Ein winziges Dorf in der Nähe von Lillegard«, füge ich erklärend hinzu. 

»Mehr weißt du nicht von dem Kerl?« Ihre rechte Augenbraue wandert hoch. Beschämt schüttle ich den Kopf und weiche ihrem tadelnden Blick aus. »Nicht mal Nummern oder Adressen habt ihr ausgetauscht …« 

Es sieht mir nicht ähnlich, dass ich mich mit fremden Männern einlasse. Noch dazu mit einem, der offensichtlich um ein paar Jahre jünger ist als ich. Sabrina weiß, wie ich ticke und wie lang ich brauche, um Vertrauen zu einem Mann aufzubauen. Mit fünfundzwanzig Jahren sollte man sich nicht mehr von einer Uniform oder einem strahlend weißen Lächeln blenden lassen. Vielleicht lag es auch an der Kündigung, die mit viel Alkohol einherging und mein Urteilsvermögen an diesem Abend offensichtlich getrübt hat. 

Sabrina seufzt und wiederholt den Namen der kleinen Ortschaft wie ein Mantra. Plötzlich greift sie nach meinem Handy. Wild beginnt sie darauf zu tippen.

»Was tust du?«

»Hast du schon mal nach der Huskyfarm gesucht?«

»Nicht nur einmal!«

Wie besessen scrollt sie über den Bildschirm. »Was hast du herausgefunden?« 

»Die Homepage ist aus dem Jahre Schnee. Weder Kontaktdaten sind angegeben noch ist ein einziges Bild aktuell.«

»Ha!« Sabrinas Augen werden groß. Freudestrahlend reicht sie mir das Handy. »Wenn es dieser Kerl ist, der dich geschwängert hat, dann herzlichen Glückwunsch.« 

Kurz starre ich auf das Bild eines blauäugigen, blonden und äußerst attraktiven Schweden. Selbst wenn dieser Mann, der inmitten vieler Huskys steht, Ole ähnlich sieht, ist er das nicht. »Das ist womöglich ein Tourist.«

»Oder sein Bruder?«

»Oder sein Bruder«, wiederhole ich gedankenverloren und versuche mich zu erinnern, ob Ole dieses Detail erwähnt hat. »Könnte sein.«

»Rufen wir an!«

»Ich habe keine Nummer gefunden.«

»Doch hier. Im Impressum.«

Wahrhaftig! Dort steht eine Nummer. Mein Herz plumpst in die Hose, wohingegen Sabrina wie ein Flummi durch den Raum springt. Sie schrammt vor lauter Enthusiasmus gegen meinen Vorzimmerschrank, verliert das Gleichgewicht, purzelt über die Müllsäcke und schießt wie eine Flipperkugel die gesamten Kartonagen um. Mit einem lauten Krachen landet sie am Boden.

»Autsch!« Entschlossen tippt sie auf das Handy, das sie trotz des Sturzes fest umklammert, wählt scheinbar die Nummer und wartet auf ein Freizeichen. 

»Du rufst doch dort nicht wirklich an?«

»Warum nicht?«

»Ab… aber was soll ich sagen?«

Zwischen ihren perfekt fassonierten Augenbrauen bildet sich eine Falte. »Ist das eine ernst gemeinte Frage?«

Nervös beginne ich auf meinen Fingernägeln zu beißen. Ein paar Augenblicke später lässt Sabrina das Handy wieder sinken. »Kein Anschluss unter dieser Nummer«, erklärt sie enttäuscht, was bei mir ein erleichtertes Aufatmen zur Folge hat.

»Warum ist es dir so wichtig, dass ich ihn anrufe?«

»Weil du dir dann vielleicht diese dämliche Idee aus dem Kopf schlägst, einfach vor seiner Tür zu stehen.«

»Meinst du nicht, es wäre besser, die Dinge persönlich zu besprechen?«

Sabrina hüpft leichtfüßig vom Boden auf. »Doch, aber du sollst nicht allein nach Schweden reisen.« 

Mein Versuch aufzustehen, gleicht einer vollgefressenen Seerobbe.

»Du kannst bei mir in der WG wohnen.« Sabrina schichtet die umgefallenen Kartons übereinander.

»Hmpf …«, stoße ich hervor und schüttle den Kopf. »Es gefällt deinen Kommilitonen bestimmt, wenn sie beim Lernen von Babygeschrei gestört werden.«

Sabrina zwirbelt an der Haarsträhne, die ihr aus dem Zopf geplumpst ist. »Das könnte durchaus vorkommen.«

»Mein Geld reicht nicht mal für ein Hotel, geschweige denn um die Kaution einer neuen Wohnung zu bezahlen. Glaube mir, ich hatte einen Plan, wie meine Familie aussehen soll, und was jetzt passiert, ist das Letzte, das ich mir für mein Kind gewünscht habe. Dennoch habe ich keine Alternative!« Wenn man nie Eltern hatte, mit denen man am ersten Schultag ein Erinnerungsfoto macht, gemeinsam Weihnachten feiert, oder von denen man einfach eine Gutenachtgeschichte vorgelesen bekommt, malt man sich vieles aus, nur nicht das, was mir passiert ist. Mein Herz wird schwer, wenn ich daran denke, dass Mucki niemals ihren Vater kennenlernen wird, sollte ich Ole nicht finden.

»Als Wildfremde mit dickem Bauch bei einer unbekannten Familie auf der Matte zu stehen, scheint mir kein guter Plan«, betont Sabrina streng.

»Ich habe Ole kontaktiert. Und das nicht nur einmal! Jedoch sind diese Postkarte und sein Facebook-Account das Einzige, was ich von ihm habe.«

»Der Betreiber der Reederei gibt dir keine Auskunft?«

»Ole hat den Dienstgeber gewechselt und aus Datenschutzgründen war es ihnen nicht möglich, mir seinen Kontakt weiterzuleiten.«

»Wissen sie um deine Situation?«

Ich nicke und packe die Wanduhr sorgfältig in das restliche Zeitungspapier ein. »Die Dame bei der Auskunft meinte, sie höre diese Geschichte nicht zum ersten Mal und könne mir nicht helfen.« Verdammt! Still und heimlich läuft eine Träne über meine Wange. Sofort wische ich sie mit dem Handrücken ab.

Bei dem Versuch mich zu umarmen, stürzt Sabrina ein zweites Mal über die Kisten und kitzelt erneut ein Lachen aus mir hervor. Sie ist der größte Tollpatsch, den ich kenne. »Was hältst du davon, wenn ich dich nach Schweden begleite?«

»Das geht unmöglich! Du lernst seit Wochen für deine Prüfungen!«

Sabrina fasst an meinen Bauch und wispert zu Mucki: »Ihr seid doch viel wichtiger als dieser Uniabschluss.«

»Kommt nicht in Frage!« Sabrina soll nicht wegen meiner Fehler auf ihren Abschluss verzichten. »Ich reise nach Lillaström, suche Ole, der bestimmt nur saisonal am Schiff arbeitet, und rede mit ihm. Er muss wissen, dass er Vater wird.«

»Was, wenn dieser Matrose ein Psychopath ist? Ich habe kein gutes Gefühl dabei, euch allein hinfliegen zu lassen.«

Liebevoll streiche ich über ihre Wange und lächle. Sabrinas Augen schimmern feucht. Ihre Sorge berührt mich, denn sie ist mehr als meine beste Freundin. Sie ist meine kleine Familie. »Mach dir keine Sorgen. Das ist nicht die erste Reise, die ich unternehme.«

»Aber die erste mit Mucki.«

»Ole ist jung, wild und wenn ich an seine Aussagen in der Nacht zurückdenke, absolut nicht bereit, Vater zu werden.«

Augenrollend quittiert sie: »Das klingt nach einem umtriebigen Jungspund, der keine Verantwortung übernehmen will.«

Lachend stimme ich ihr zu, selbst wenn ich am liebsten laut aufschreien möchte. »Hey, sieh es doch mal so. Ich wollte schon immer in der Vorweihnachtszeit nach Schweden.« Mein ganzes Leben lang war ich gut darin, die Dinge, die scheiße liefen, schön zu reden. »Der Geburtstermin ist in einem Monat. Zeit genug, um die Sache mit Ole zu klären und eine Lösung für meine Wohnsituation zu finden. Der Urlaub wird mir guttun.« Schnell wende ich mich ab, um vor Sabrina zu verbergen, dass ich kurz vor einem Heulkrampf stehe. Die letzte Reise vor Muckis Geburt und zugleich die wichtigste steht bevor, denn ich habe keine Ahnung, was mich in Lillaström erwarten wird. 

»Ihr werdet mir fehlen.«

»Wir bleiben nicht lange. Noch bevor Mucki auf die Welt kommt, bin ich schon wieder zurück in München.« Wie ich eine neue Wohnung finanzieren soll, ist mir zwar noch nicht klar, aber wie immer vertraue ich darauf, dass sich alles fügen wird und ich irgendwo einen Unterschlupf bekomme. 

»Versprochen?«

»Versprochen!«

 

Ein riesiger Elch aus Plüsch, dekoriert mit Attrappen von Dutzenden Geschenken, zieht die Aufmerksamkeit der reisenden Kinder in der Eingangshalle sofort auf sich. Blitzartig rennt eine ganze Schar zu dem perfekt platzierten Tier, das sich zufällig direkt bei einem Spielzeuggeschäft befindet. Ächzend stöhnt ein Vater neben mir auf, der alle Koffer zu Boden fallen lässt, um den Zweijährigen hinterherzulaufen. Bevor seine Frau mich mit dem Kinderwagen ausbremst, rempelt mich von der anderen Seite eine gestresste Mutter an. Die Frau entschuldigt sich und eilt weiter. 

Ich beobachte Wiedersehensfreude bei Menschen, die sich in die Arme fallen, erlebe lautstarke Diskussionen und versuche in dem Chaos die Orientierung bei den vielen schwedischen Begriffen nicht zu verlieren. Die Schweißperlen, die sich auf dem Weg bis zum Ausgang auf meiner Stirn gebildet haben, verweht der eiskalte Schneesturm von Östersund. Zähneklappernd reihe ich mich wie all die vorbildlichen Schweden in die lange Schlange jener ein, die auf ein Taxi warten. Die leichte Sommerjacke, deren Knöpfe ich als einziges nicht mit meinem Bauch sprenge, schenkt kaum Wärme. Ganz zu schweigen von Sneakers, die nach ein paar Minuten ein Gefühl erzeugen, als würde ich durch einen eiskalten Sumpf waten. 

Um mich abzulenken, fische ich das Handy aus der Jackentasche und scrolle über die unzähligen Nachrichten, die ich Ole auf seinem Facebookaccount hinterlassen habe. Anfangs bat ich ihn um seine Nummer, dann um ein Gespräch und einen dringenden Rückruf. Alle meine Messages blieben unbeantwortet. Zum letzten Mal war Ole nach meinem Kurztrip online. Wie eine Stalkerin speicherte ich alle Bilder auf seinem Account ab, um sie später Mucki zeigen zu können. 

Die Ähnlichkeit mit dem Mann, den Sabrina auf der Website gefunden hat, ist frappant. Obwohl er um einiges älter als Ole wirkt, müssen die beiden verwandt sein. Die hellblauen Augen, mit denen Ole mich um den Finger gewickelt hat. Selbst sein strahlendes Lächeln erinnert mich an den Mann, mit dem ich bloß eine Nacht verbracht habe.

»Hej! Wo soll es hingehen?«, reißt mich der Taxifahrer aus den Gedanken. Das ging schnell! Er hebt ohne Aufforderung meine zwei Taschen hoch. Scheinbar strahle ich deutsche Vibes aus, oder er hat durch den Oktoberfeststicker mit der Aufschrift O´zapft is mein Herkunftsland erraten. Sein Lächeln und der Akzent machen ihn sofort sympathisch. Er richtet seine Wollmütze und deutet auf das Taxi hinter ihm. »Komm, im Auto ist es warm.«

»Ähm … also, ich suche eine Farm«, stottere ich und stakse ihm durch die matschigen Schneehaufen nach.

»Von denen gibt es hier viele.« 

»Eine Huskyfarm?«, versuche ich, präziser zu sein. 

Er lacht und zieht die Mütze vom Kopf. Ein paar spärlich verteilte Haare kommen zum Vorschein. Der Taxifahrer blickt neugierig auf meinen Bauch. »Du musst etwas genauer werden. Huskyfarmen haben wir ebenfalls ein paar. Aber wenn du mir sagst, wen du suchst, kann ich vielleicht helfen.« 

Bei meiner letzten Reise nach Stockholm fiel mir auf, dass sich hier kaum jemand siezt. Ohne die gewohnten Höflichkeitsfloskeln erscheint ein fremder Taxifahrer plötzlich wie ein Freund. 

»Ich suche Ole. Er wohnt in Lillaström und besitzt dort eine Husykfarm«, erkläre ich bibbernd.

»Hm …«, brummt er und reibt mit einer Hand über seine Wange. »Lillaström ist ein sehr kleiner Ort. Meinst du Ole Hansen?«

Wie viele Oles mag es in Lillaström geben? Da ich Oles Nachnamen nicht kenne, zucke ich die Schultern. »Womöglich.« Er fasst es als Witz auf und ein breites Grinsen formt sich auf seinem Gesicht. Darunter lässt sich ein schiefer Schneidezahn erahnen. 

»Du bist witzig!« 

Witzig oder einfach nur dämlich, weil ich trotz meiner großen Kugel dieses Abenteuer eingehe? Schnell ziehe ich die Postkarte hervor, die ich heimlich nach unserer gemeinsamen Nacht hab mitgehen lassen. 

»Oh ja, das sind die Hansens.«

»Hansen«, wiederhole ich. »Kannst du mich dort hinbringen?« 

»Naturligtvis!«

Vermutlich heißt das so viel wie: Natürlich. 

»Danke«, murmle ich verlegen und beginne meine eiskalten Finger zu reiben. Ächzend und erschöpft sinke ich auf seinen Beifahrersitz. »Vorher muss ich noch abklären, wie viel die Taxifahrt kostet? In meiner Geldbörse befinden sich die letzten fünfzig Euro.« Das Flugticket war teurer als erwartet und Sabrina half mir bei der offenen Miete aus. Im Grunde bin ich pleite.

Er zieht seine buschigen Augenbrauen hoch, doch grinst, anstatt zu antworten. Um seine blauen Augen ziehen sich tiefe Falten. Seine Haut wirkt, als hätte er schon viele kalte und eisige Winter hinter sich. Langsam rangiert er das Auto aus der Parklücke. Erleichtert atme ich auf, denn nach meiner Geldbeichte bin ich froh, dass er mich nicht sofort aus dem Auto geworfen hat. »Dann suchen wir mal Ole.«

»Danke!« Ein Danke, das mir noch nie so befreit über die Lippen kam und Tränen der Erleichterung entfacht. Der Taxifahrer klopft freundschaftlich auf meine Hand, um mir Mut zu schenken, und löst nur noch mehr Emotionen damit aus.

Dicke Flocken erschweren die Sicht. Es dämmert und nur stockend schiebt sich der Verkehr weiter. »Schneit es hier immer so viel?«, will ich wissen, nachdem ich meine Nase geräuschvoll mit einem Taschentuch putze. 

»Für die kommende Woche ist starker Schneefall angesagt. Das jetzt ist die Vorhut.« Er deutet auf meine Schuhe. »Wenn du planst, länger hierzubleiben, brauchst du anderes Schuhwerk.« 

Peinlich berührt schiele ich zu meinen dünnen Sneakers, in denen sich die Gliedmaßen wie gefrorene Eisklumpen anfühlen. »Ich bleibe nicht lange.«

»Hm«, brummt er, konzentriert sich wieder auf den Verkehr und summt zu einem Song von ABBA mit. »Die Farm, zu der ich dich bringe, liegt über zwei Stunden von Östersund entfernt. Du bist sicher, dass du dort hinfahren willst? In deinem Zustand?« Er nickt zu meinem Bauch. »Ich meine ja nur … Wenn du ein Krankenhaus benötigst, ist das oft mit einer langen Fahrzeit verbunden.«

»Oh! Keine Sorge. Der Geburtstermin ist in einem Monat.« Bis dahin habe ich hoffentlich Ole gefunden, die Angelegenheit geklärt und bin im Besitz einer neuen Wohnung in München. 

Der Taxifahrer nickt. »Ist das dein erstes Kind?«

Liebevoll streiche ich über den Bauch. »Das ist es.«

»Und woher kennst du Ole?«

Es fühlt sich seltsam an, mit einem Fremden über die kurze Liaison mit dem attraktiven Matrosen zu sprechen, doch der Mann ist freundlich und ich werde ihn vermutlich nie wiedersehen. Anrik, wie sich der Taxifahrer mit Vornamen vorstellt, entpuppt sich als wunderbarer Zuhörer. Er lebte selbst eine Zeit lang in Deutschland.

»Woher stammst du?«, will er wissen.

Er ist nicht der Erste, der mir diese Frage aufgrund meines olivfarbenen Teints und der dunkelbraunen Haare stellt. »Ich denke, meine leibliche Mutter war Spanierin. Sie gab mich im Kinderheim ab.«

»Oh, ich wollte mit der Frage nicht …«

»Schon gut, ich kenne es nicht anders.«

Auf Anriks Gesicht bildet sich ein beschämtes Lächeln. Sofort erzählt er mir von den Massen an Schnee, die für die kommenden Tage vorausgesagt werden. »Das Wetter spielt auch hier verrückt. Klimawandel!« Überraschend wechselt er das Thema. »Wie geht es Ole? Ich habe die Hansens seit der Sache vor einem Jahr nicht mehr gesehen.«

Verwundert sehe ich zu ihm. »Welche Sache?«

»Der Tod seines Vaters, Holger.«

Meine Hand wandert direkt an die Stelle, an der mein Herz wie verrückt zu pochen beginnt. Warum hat mir Ole das damals nicht erzählt? »Sein … sein Vater ist gestorben?«

»Ja, ein tragischer Unfall. Er war in Lillaström sehr geschätzt.«

»Das … das tut mir leid«, murmle ich und versuche die Themen unseres Gesprächs zu rekapitulieren, was mir nach der Kündigung an dem Abend und der damit einhergehenden Cocktailverkostung schwerfällt. 

Anrik setzt den Blinker und biegt auf eine wenig befahrene Straße ab. »Ist Ole also wieder zurück?«

Gott, wenn ich das wüsste. Was Anrik von mir denken muss. »Ähm«, hüstle ich verlegen. »Das hoffe ich.«

Sabrinas Nachrichtenflut erreicht mich im richtigen Moment und unterbricht das Verhör. Sie will wissen, ob ich gut angekommen bin, wie es Mucki geht und wie die Leute sind. Um in keine unangenehme Situation zu geraten und noch mehr von Anriks Fragen beantworten zu müssen, texte ich ihr ausgiebig, erzähle von den Eindrücken beim Eintreffen am Flughafen, dem gigantischen Plüschelch und dem netten Taxifahrer. Ich verspreche, mich gleich morgen telefonisch bei ihr zu melden. 

Zwanzig Minuten später biegt das Taxi auf einen komplett dunklen Waldweg ein. Die Reifen drehen bei jeder Kurve durch und in meinem Bauch rumort es unangenehm. Automatisch verkeile ich Arme und Füße am Armaturenbrett und beim Fenster.

»Oroa dig inte. Detta är helt normalt.« Anriks Versuch, das driftende Auto zu kontrollieren, hat ihn offensichtlich vergessen lassen, dass ich der schwedischen Sprache nicht mächtig bin.

»Was?«, kreische ich entsetzt.

»Keine Sorge, das ist ganz normal«, übersetzt er. 

Eine spiegelglatte Einfahrt, die uns wie das Tassenkarussell im Disneyland umherwirbelt, und Schneewehen, die unser Taxi wie ein kleines Matchboxauto unter sich begraben können, sollen mich kalt lassen? Gerade glühe ich, doch bloß weil sich der Angstschweiß aus jeder Pore presst. Ruckartig bleibt das Auto in einem gigantischen Schneehaufen stehen. 

Anrik hält sich den Bauch vor Lachen, während ich zehn Kreuze andeute. »Välkommen till Lillaström!«

 

 

 

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